Ludwig Seyfarth

Der doppelte Boden der Imitation

Tom Früchtls dreidimensionale Reflektionen über die Dummheit der Malerei

Wir leben in paradoxen Zeiten. Während der Kunstbetrieb immer stärker nach einer klaren künstlerischen Identität, nach immer wiedererkennbaren Markenzeichen verlangt, scheinen intellektuell doch nur Künstler auf der Höhe der Zeit, die Bilder oder Dinge her- stellen, die in herkömmliche Kategorien nicht passen, vielleicht sogar paradox sind. Und das tut Tom Früchtl. 2001 stellte Früchtl eine gewöhnliche braune Papiertüte aus. Schon wieder so ein blödes Ready Made, und das fast hundert Jahre nach Duchamp? Doch wer gleich gelangweilt abdreht, verpaßt alles und vor allem, was alles nicht stimmt. So verlaufen die Schatten auf der zerknitterten Tüte anders, als es beim gerade einfallen- den Licht sein müßte. Kein Wunder, denn die Schatten sind auf die Tüte draufgemalt. Knitterfalten und Schattenwürfe gehören seit jeher zu den Domänen der augentäuscherischen Trompe-l’Oeil-Malerei. Immer wieder erzählt wird der antike Wettstreit der Maler Zeuxis und Parrhasios. Zeuxis täuschte Vögel mit gemalten Trauben, Parrhasios aber gewann, indem er Zeuxis täuschte. Er forderte den Rivalen auf, den Vorhang vor seinem Gemälde zu ziehen. Diesen hatte er jedoch gemalt - der Vorhang war das Bild. Seine größte Virtuosität erreichte das Trompe-l’Oeil in der Stillebenmalerei des 17. Jahrhunderts und in der Ausstattung barocker Schlösser und Kirchen. Im 19. Jahrhun- dert sank der Stern augentäuscherischer Illusionstechniken, und in der modernen Kunst wurden sie weitgehend vermieden oder sogar attackiert. Außer im Umfeld des Surrea- lismus waren perspektivische Raumtiefe und naturgetreue Materialimitation kaum noch ein Thema der Malerei. Einen Gipfelpunkt erreichte der Anti-Illusionismus nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA - in der reinen Farbfeldmalerei und in den Objekten der Minimal Art. Ein Bild sollte nur noch ein Bild, ein Objekt nur noch ein Objekt sein. Kunst sollte nur noch „sein“, nichts erzählen und auf nichts verweisen.

Tom Früchtl knüpft sowohl an die Tradition des Illusionismus an als auch an die Versuche, ihr weitestgehend zu entkommen. Und die Illusion wird fast immer erst auf den zweiten Blick deutlich. So nimmt man den „Vorhang“, den Früchtl als heutiger Parrhasios auf die Papiertüte gemalt hat, im ersten Moment ebensowenig wahr wie bei den Kartonskulpturen, die entweder an der Wand hängen oder wie ein zufällig abgestellter Haufen eine scheinbar nicht-intentionale Skulptur bilden. Die Farbflecken und Klebebän- der, die man zunächst als gewöhnliche Gebrauchsspuren wahrnimmt, sind sorgfältig auf die Kartons gemalt. Noch versteckter sind die Eingriffe bei den Möbeldecken, die Früchtl auf verschieden große Keilrahmen gespannt hat. Die schmutzig grauen, aus geschredderten Altkleidern hergestellten Decken sind bei genauerem Hinsehen von einer Vielzahl kleiner farbigen Fäden durchzogen, die von den verarbeiteten Kleidungs- stücken stammen. Früchtl übermalt die einzelnen Fäden mit der jeweiligen Farbe und hebt sie dadurch hervor, so dass der Eindruck eines All-Over-Gemäldes entsteht, das an Werke der informellen Malerei und vor allem an Drippings von Jackson Pollock erinnert. Bevor es zum künstlerischen Ausdrucksmittel avancierte, war das gleichmäßige All-Over ein bevorzugtes Mittel militärischer Camouflage-Techniken. Und mit Camouflage hat Früchtls Vorgehen viel zu tun, aber eher im umgekehrten Sinn: Seine Übermalungen verbergen nicht, sondern folgen den Dingen und Räumen so akkurat, dass man sie zu- nächst kaum bemerkt. Oder besteht das Verbergende, die Camouflage, nicht eher darin, dass alles offen vor Augen steht und man es deshalb übersieht – wie Edgar Allan Poes berühmten entwendeten Brief, der einfach auf dem Tisch liegt und gerade deshalb von den Fahndern nicht gefunden wird?

2003 baute Früchtl erstmals Musikverstärker und Lautsprechertürme aus Pappe und Jute baute. Diese Objekte knüpfen an unechte Bühnenkulissen an, wie sie bei Auftritten von Rockbands in den achtziger Jahren beliebt waren. Sie erinnern aber auch an die Pappmodelle, mit denen Thomas Demand die Ambientes berühmter Fotografien nachstellt, sie abfotografiert und dann auf großen Cibachromeabzügen zeigt. Die Reduktion gegenüber dem „Na- turvorbild“, die Modellhaftigkeit, wird hier bewußt herausgestellt.

Bei Früchtl allerdings würde ein Foto als künstlerisches Ergebnis der Konsequenz widersprechen, mit der er die Grenze zwischen Bild und Gegenstand, zwischen Darstellung und Dargestelltem immer wieder unterläuft. So verschleift er auch die Melodielinien, die er bei seinen Performances anspielt, bevor sie nacheinander durch eine Loopmachine laufen und einen Sound ergeben, als ob dreißig oder vierzig Gitarren gleichzeitig spielen würden – nahezu ein weißes Rauschen.

Solche seit 2002 stattfindenden Auftritte erinnern wie das nachgebaute Equipment an Früchtls frühere Karriere als Rockmusiker. Sie klingt auch noch durch, wenn Früchtl die verdeutlichenden Übermalungen von Farb- oder Schattenverläufen und dem Ver- stärken und Tunen von Sound vergleicht, was sich auch in manchen Werktiteln spiegelt („Pumping up the volume“).

Vor allem das Technische, Maschinelle und Reproduzierte an der Musik scheint Früchtl zu interessieren, wenn er als bildender Künstler arbeitet. Und was tut seine Ma- lerei? Sie imitiert, übermalt, folgt sklavisch dem, was schon vorhanden ist, macht also genau das, weswegen man sie schon oft für dumm erklärt hat. Aber was macht Früchtl denn grundsätzlich anderes als viele heutige Maler, die ihre Motive von projizierten Dias abkopieren? Dass aber das bloße Kopieren und Imitieren nicht nur in eine Verdoppelung, sondern immer auch in Doppelbödigkeiten hineinführt, entgeht vielen Kritikern der ver- meintlich dummen Malerei. Und in genau diese Doppelbödigkeit und auch Paradoxien legt Tom Früchtl gleichsam immer wieder seinen Finger. Nur ist es nicht, wie redensart- lich, eine Wunde, sondern eher ein blinder Fleck.

Gekürzte und bearbeitete Fassung eines Beitrags in Kunsttermine Nr. 1, 2005